"Als die Berliner Mauer zusammenbrach": Zeitzeugen berichten - "Grenzenloser Jubel eint die Deutschen" - "ein Wunder der Geschichte" - Paddeltour: "Wir sitzen im selben Boot - in Ost und West"

Als die Berliner Mauer zusammenbrach“ überschrieb Alt- Bundeskanzler Willy Brandt ein Buch. Am 9. November 1989 – vor 25 Jahren – brach wirklich die Berliner Mauer zusammen. Der Weg zur "Freiheit und Einheit" (Bundespräsident Joachim Gauck) begann aber schon vorher mit vielen kleineren und größeren Aktionen wie der Öffnung der Grenze in Ungarn, der Botschaftsbesetzung in Prag und der Montagsgebete und Montagsdemonstrationen in Leipzig. Albrecht Kaul, ehemals stellvertretender Generalsekretär des deutschen Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM) und selbst Betroffener, Eberhard Rohde, ehemaliger Redaktionsleiter der Wolfsburger Nachrichten, und Carsten Baschin, Redaktionsleiter der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung, schreiben zu ihren Eindrücken vom 9. November 1989. Außerdem darf der Hinweis auf eine gemeinsame Paddeltour von Sulinger, Havelberger und Wolfsburger Schülerinnen und Schüler nicht fehlen, die 1990 unter dem Motto „Wir sitzen im selben Boot - in Ost und West“ gemeinsam 300 Kilometer von der Oder zur Elbe gepaddelt sind.

 

Zurzeit gibt es eine Wander-Aktion unter dem Motto „25 Jahre Wunder der Freiheit und Einheit“ von christlichen Gruppen. Weitere Informationen im Internet unter www.3-oktober.de/25-Jahre-Mauerfall

Albrecht Kaul
Albrecht Kaul

Als 16-Jähriger 1960 das erste Mal in Westberlin. Vom Ostsektor mit der S-Bahn kein Problem. Großes Staunen und erkunden, was zu tun ist, wenn man bleiben will. Wenn ich 18 Jahre bin und den Gesellenbrief in der Hand habe, dann nichts wie weg aus der DDR! Doch am 13. August 1961 war der Traum geplatzt. Mein christliches Engagement hat mich dann zu der Erkenntnis gebracht, im Osten zu bleiben und dort meine Aufgabe in der christlichen Jugendarbeit wahrzunehmen. Der Traum aber blieb, die Mauer irgendwann zu überwinden. Als ich denn zu einer „Dienstreise“ 1980 über Westberlin nach Hannover fahren durfte, hatte ich mich auf ein weltmännisches Frühstück im Interzonenzug gefreut. Doch nach dem Durchqueren der siebenfachen Grenzsicherung war mir der Appetit vergangen. Plötzlich war das schlechte Gewissen da: „Wieso darf ich fahren und 17 Mill. nicht?“

 

Als dann die Nachricht von der Öffnung der Mauer durch die Medien ging, wollte ich es nicht glauben. Dieser Staat, der mit äußerster Brutalität die Fluchtbarriere verteidigt hat, musste klein beigegeben? Mir ging das Psalmwort nicht aus dem Sinn: „Ihr werdet sein wie die Träumenden“ – und doch war es die Realität. Freiheit in greifbarer Nähe; die Angst vor der scheinbaren Allmacht einer verlogenen Ideologie hatte ein Ende. Es brauchte mehrere Wochen, bis dies vom Wissen ins Bewusstsein gewachsen war. Erst meinten wir, die DDR wird annehmbarer, aber als die Einzelheiten von Stasipraxis, geplanten Internierungslagern und maroder Wirtschaft bekannt wurden, gab es nur einen Weg nach vorn: Wiedervereinigung und zwar schnell. Auch ein Gedanke, an den wir uns gewöhnen mussten, aber es war der einzig richtige Weg.

 

Eberhard Rohde
Eberhard Rohde

Die Grenze ist offen - ein Wunder der Geschichte

 

Mitten in Deutschland gelegen war Wolfsburg 45 Jahre eine Grenzstadt. Diese Bezeichnung wurde im Wolfsburger Rathaus nicht gern gehört. Auf die gut sechs Meilen ostwärts gelegene Zonengrenze zu sehen, das war nicht opportun für die Industriestadt. Der Blick galt dem Westen.

 

In vielfacher Hinsicht. Bürgerruhe war jahrelang politisch angesagt. Dennoch bestanden viele private Kontakte nach „drüben“. Und die Verbindungen in Richtung Osten entwickelten sich in den 70er- und 80er Jahren zur Politik der Annäherung. Viel beigetragen dazu hatte vorher schon das Kuratorium Unteilbares Deutschland.

 

Erinnern wir uns, dass in Wolfsburg am 17. Juni oft Tausende zur Feierstunde auf den Klieversberg eilten, vor allem Schüler und junge Leute. Sogar eine Staffellauf zur Grenze gehörte dazu. Das Zonenrandhaus in Zicherie entstand rund 30 Jahre vor der Wiedervereinigung. Der Glaube an die Vereinigung beider deutscher Staaten schwand gerade in den 70er Jahren immer mehr.

 

Der kleine Kreis der Deutsch-Deutschen Arbeitsgruppe (DDA), die sich in jener Zeit gegründet hatte, stieß zuweilen auf der politischen Ebene auf Unverständnis. Kontakte nach drüben sollten sich auf Paketsendungen und Briefe beschränken. Aber gerade die DDA stellte damals die Weichen zu den „Menschen von drüben“. Das beförderte letztlich die Annäherung zwischen Halberstadt und Wolfsburg noch bevor die Grenzschranken fielen. Die Städtepartnerschaft kam zustande, weil sich auch die Kommunalpolitiker nun verstärkt um Kontakte bemühten.

Bei einem Gottesdienst in Öbisfelde Foto: Eberhard Rohde
Bei einem Gottesdienst in Öbisfelde Foto: Eberhard Rohde

Monate später fiel die Mauer in Berlin. Noch gab es die sperrigen Grenzanlage östlich von Wolfsburg; noch trennten Stacheldraht, Zäune und Minenfelder die beiden deutschen Staaten. Mit etwas Verspätung öffneten sich auf Druck der Menschen auf beiden Seiten die einstigen Verbindungsstraßen. So in Zicherie und am 26. November zwischen Büstedt und Öbisfelde. Die dortige Brücke war am 26. Mai 1952 zum letzten Mal passierbar. Danach kam jeglicher Verkehr zum Erliegen.

 

Die Wolfsburger richteten in der damaligen Zollbaracke in Büstedt, umgewandelt in „Haus Wolfsburg“, einen Ausstellungsraum ein. Heute steht dort nur noch eine Erinnerungstafel über die einstigen Grenzbefestigungen.

 

Schon einige Tage vorher erlebten die Wolfsburger den Ansturm der DDR-Bürger in der Stadt. Viele kamen mit dem Zug, die meisten aber über Marienborn mit ihrem Trabi. Das magische Wort hieß „Begrüßungsgeld“. Ein ehemaliger Berufssoldat aus Bautzen schilderte die Ankunft auf dem Bahnhof so:

 

Endstation war Wolfsburg. Hier wusste zunächst keiner, wie es weiter gehen soll. Hier lagen abends Menschen auf dem Fußboden, um sich auszuruhen. Das Chaos war ohnegleichen. Das Team der „Arche“ nahm uns freundlich auf und reichte uns den beliebten Kaffee. Und verwiesen uns ans Rathaus und an das Postamt, wo es Besuchsgeld gratis und reichlich gab“.

 

Die Trabiwelle schwappte über. Der typische Geruch des Benzingemischs lag wie eine Wolke über der Stadt, in der es nur fröhliche Gesichter gab. Nicht nur die Besucher jubelten, auch die Geschäftsleute hatten Grund zur Freude. Denn allein am 12. und 13. November wurde die stattliche Summe von 1,3 Millionen DM verteilt. Die Euphorie kannte auf beiden Seiten keine Grenzen.

 

In den Jahren danach ist eine gewisse nüchterne Betrachtung dieser „Befreiungstage“ eingetreten. Erinnern wir uns aber dennoch an jene für die deutsche Geschichte einmalige Tage und Wochen, die den Slogan „Wir sind das Volk!“ geprägt haben. Und daran, dass vorher schon einige Wolfsburger den Lichterbaum an der Grenze bei Büstedt haben aufleuchten lassen, und während eines ökumenischen Gottesdienstes, zu Posaunenklängen und Glockenklang (auch von den Kirchen Öbisfeldes!) dafür standen, die zwischenmenschlichen Verbindungen zwischen Ost und West nicht zu vergessen.

 

Dass sich die stillen Wünsche erfüllten, erscheint uns heute noch als ein fast unbegreifliches Wunder.

 

Carsten Baschin
Carsten Baschin

Reporter Tag und Nacht unterwegs - Sonderseiten - "Grenzenloser Jubel eint die Deutschen" 

 

Die Journalisten der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung  haben den Tag, an dem die Mauer fiel, genauso erlebt wie wohl die meisten Deutschen - mit ungläubigem Staunen. Natürlich lief auch in der Redaktion der  Fernseher, als der DDR-Politiker Günther Schabowski in einer live übertragenen Pressekonferenz etwas unbeholfen erklärte: „Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen......Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“

 

Allerdings begriffen wir Journalisten erst später an diesem Abend, was das bedeutete  - in Berlin öffnete sich die Mauer, Menschenmassen strömten von Ost nach West. Und nicht nur in Berlin. Auch im nahen Helmstedt war der Grenzübergang plötzlich offen. In Wolfsburg allerdings, obwohl grenznahe Großstadt, blieb in der ersten Nacht nach dem Grenzfall alles ruhig. Fast alle Menschen saßen vor dem Fernseher und sahen die unglaublichen Bilder von den geöffneten Grenzen. Zwar schwärmten noch in der Nacht mehrere WAZ-Reporter aus, um mit den ersten DDR-Besuchern zu sprechen – sie fanden aber niemanden, auch nicht an Tankstellen oder auf den Parkplätzen der City. Von Trabbi-Kolonnen und jubelnden Menschen war nichts zu sehen wenn überhaupt, trafen ganz vereinzelt DDR-Bürger am späten Abend oder in der Nacht ein, um hier Verwandte zu besuchen. Die WAZ erschien denn auch am nächsten Tag, dem 10.November 1989, mit der eher nüchternen Schlagzeile: "DDR öffnet Grenze zum Westen".

 

An den den folgenden Tagen änderte sich das Bild allerdings gewaltig. Am Tag nach dem Mauerfall trafen tausende DDR-Bürger in Wolfsburg ein. Schon am frühen Morgen tuckerten die ersten Trabis über den City-Ring, wenig später standen die ersten Kunden aus Gardelegen oder Magdeburg in den Geschäften. Die Wolfsburger begrüßten die Besucher überschwänglich, "Wahnsinn" war das Wort der Stunde. Die WAZ brachte die ersten Sonderseiten, auch die nächste Titel-Schlagzeile klang schon deutlich emotionaler: "Grenzenloser Jubel eint die Deutschen!"

 

Am ersten Wochenende nach der Grenzöffnung brachen dann alle Dämme: Fast 15.000 DDR-Bürger strömten nach Wolfsburg. Die WAZ bot in ihrer geöffneten Geschäftsstelle für DDR-Bürger kostenlose Telefonate an und veröffentliche für die Besucher eine kostenlose Sonderausgabe mit Tipps und Informationen. Auch in der Redaktion erschienen plötzlich viele DDR-Besucher, bestaunten unter anderem die Computer, unter anderem erschienen auch DDR-Journalisten, die privat über die Grenze gekommen waren. Die WAZ-Reporter waren Tag und Nachts unterwegs für die nächsten Sonderseiten, und viele Kollegen kamen abends zurück in die Redaktion und sagten nur ein Wort: "Wahnsinn!"

 

Paddeln vor dem Palast der Republik: Die Ost-Berliner Wasserschutzpolizei hilft den Schülerinnen und Schülern
Paddeln vor dem Palast der Republik: Die Ost-Berliner Wasserschutzpolizei hilft den Schülerinnen und Schülern

50 Schülerinnen und Schüler aus Sulingen, Havelberg und Wolfsburg paddeln von der Oder zur Elbe 280 Kilometer - "Wir sitzen alle im selben Boot - in Ost und West"

 

Es war damals eine bewegte Zeit. Und mittendrin:  Schülerinnen und Schüler aus Sulingen, Havelberg und russlanddeutsche Aussiedler aus Wolfsburg. Unter dem Motto "Wir sitzen im selben Boot - in Ost und West" paddelten sie gemeinsam im April und Mai 1990 acht Tage lang von der Oder zur Elbe. Hauptorganisator Hans-Jürgen Wille von der Realschule Sulingen erinnert sich: "Es war eine tolle Tour. Die Schüler haben symbolisch Unterstützung von Prominenten durch Unterschriften auf einem Kupferplättchen erhalten. Super sind die 13- und 14-Jährigen die Strecke über Flüsse und Kanäle gepaddelt. Und die Betreuer haben vorbildlich mitgeholfen."  Eltern in Sulingen und Havelberg, der Sportdienst des Wolfsburger Volkswagen-Werkes, Pastoren, Journalisten, Politiker, Sportler, Lehrer, Polizeibeamte, Fernsehleute und Rundfunkreporter.

 

Über 300 Prominnente aus dem In- und Ausland unterstützen die Aktion durch ihre Unterschriften. Von Box-Weltmeister Max Schmeling und Fußballstar Fritz Walter und "Wunderläufer" Emil Zatopek bis hin zu Politikern wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth, Bundeskanzler Helmut Kohl, die Ex-Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt und Vaclav Havel bis hin zu Künstlern wie Phil Collins und Sophia Loren.

 

Die jungen Paddlerinnen und Paddler mit IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch (5. von links stehend). Hauptorganisator Hans-Jürgen Wille von der Realschule Sulingen ist der 7. von links stehend.
Die jungen Paddlerinnen und Paddler mit IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch (5. von links stehend). Hauptorganisator Hans-Jürgen Wille von der Realschule Sulingen ist der 7. von links stehend.

Höhepunkte waren der Empfang durch Niedersachsens Ministerpräsidenten Ernst Albrecht im Landtag und seinem Privathaus in Burgdorf, der Besuch der Volkskammer im Palast der Republik in Berlin mit einem ausführlichen Gespräch über die deutsche Einheit mit Volkskammerpräsidentin Dr. Sabine Bergmann-Pohl und die Fahrt nach Lausanne/Schweiz zum Präsidenten des Internationalen Olympischen Komittees, des Spaniers Juan Antonio Samaranch, mit einem sehr menschlichen Erfahrungsaustausch über die Tour und Autogrammen auf vielen IOC-Wimpeln und IOC-Plakaten.

 

Unvergesslich der Tag der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990: Zuerst der Besuch eines Gottesdienstes und ein Tischtennisvergleich in den neuen Bundesländern. Am Abend dann gemeinsam mit Freunden aus Spanien das Feuerwerk direkt unter dem Brandenburger Tor.

 

Berichte in Presse, Rundfunk (auch im tschecheslowakischen Rundfunk) und Fernsehen zeigen: "Eine Idee von Kindern und Jugendlichen schlug hohe Wellen."

"Ich erinnere mich immer noch gern an die klasse Zusammenarbeit der Havelberger, Wolfsburger und Sulinger Schülerinnen und Schüler und die vorbildliche Unterstützung durch Eltern, Lehrer, Polizisten, Pastoren, Sportler, Politiker, Presse, Rundfunk und Fernsehen. Die Paddeltour und viele Aktionen vor und nach der Tour haben gezeigt: Wir sitzen im selben Boot – in Ost und West. Und die jungen Menschen haben uns dies während der Vorbereitung und der sozialsportlichen Aktion braverös vorgemacht", ist Hans-Jürgen Wille heute immer noch dankbar.

 

Eine Fotogalerie über die Paddeltour gibt es auf diesem Internetatritt (hier klicken).

 

Albrecht Kaul
Albrecht Kaul

Ihr werdet sein wie die Träumenden

 

32 Jugendliche treffen sich Ende Sommer 1989 am Balaton in Ungarn. 16 aus dem Siegerland, 16 aus Sachsen. Solche Ost-West-Begegnungen sind in der DDR nur mit Täuschung der Staatsorgane und unter ständiger Beobachtung der Stasi möglich, in Ungarn gibt es schon mehr Freiheit und die Landschaft mit den gastfreundlichen Menschen passt dazu. Unsere Bibelarbeiten zum Thema Weltverantwortung der Christen sind von den Zeitereignissen vorgegeben. Was wir aber in Ungarn erst richtig begreifen: Die Grenze zu Österreich ist offen. Tausende lassen ihre Campingausrüstung zurück, lassen den Trabi am Straßenrand stehen und nutzen die Chance zur Freiheit. Niemand stellt sich den Flüchtenden in den Weg. 32.000 werden es schließlich, die diesen Weg in den Westen wagen. Natürlich ist das auch Thema unserer Gespräche und heißen Diskussionen. Die Siegerländer ermutigen die DDR-Jugendlichen und wollen ihnen beim Start in der BRD helfen. Es ist kein „Abwerben“, es ist die hilfreiche Hand, dass der Sprung in den Westen so überraschend gelingen kann. Schließlich haben in den 28 Jahren Mauergrenze über 1000 Menschen diesen Sprung in die Freiheit mit dem Leben bezahlt. Mancher der Jugendlichen aus der DDR hat mit dem Gedanken gespielt, die Chance zu ergreifen. Könnte es hier doch die letzte Möglichkeit sein, in die ersehnte Freiheit zu kommen. Jeder weiß, das Regime in Berlin Pankow zeigt sich uneinsichtig, demokratiefeindlich und starrköpfig. Alle Veränderungen in Polen und sogar in der UdSSR werden ignoriert und mit Sturheit, stalinistischer Linientreue und Betonsozialismus beantwortet. Doch der Mut der ungarischen Regierung, den Stacheldraht einfach niederzureißen, die Entschlossenheit der Werftarbeiter in Danzig und die Signale von Michael Gorbatschow mit „Umgestaltung“ und „Offenheit“ lassen hoffen. Auch in der DDR gibt es schon erste Demonstrationen, der Unwille gegen die offensichtlichen Wahllügen im Frühjahr, das Engagement der Friedens- und Basisbewegungen sind vorsichtige Zeichen, dass sich die Menschen nicht mehr alles gefallen lassen. Doch sie bekommen die ganze Härte von Polizei und Stasi zu spüren. Die Friedensgebete in der Nikolaikirche Leipzig werden zu Massenveranstaltungen. Endlich gibt es eine Stelle, wo man den Druck, die Ausweglosigkeit und die Hoffnungslosigkeit benennen und in Gebeten zu Gott bringen kann. Die Solidarität der Kirche mit denen, die als Ausreisekandidaten keine Stimme mehr haben, das offene Ohr für perspektivlose Jugendliche und ein Ort, der ohne Lügen und Scheinbekenntnisse auskommt, das macht Mut.

 

Dahin wollen die DDR-Jugendlichen zurück, sie wollen dabei sein, wenn sich etwas verändert, sie wollen selbst mit verändern. Rosi will zum nächsten Friedensgebet unbedingt wieder in Leipzig sein, Reinhard hat jetzt den Mut, den Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee zu verweigern und Karen wird aktiv in der Umweltbibliothek mitarbeiten. So sitzen wir alle 16 in den Trabis und Wartburgs und fahren auf die Ungarisch-Tschechoslowakische Grenze zu. Brav, wie sich das für DDR-Bürger gehört, halten wir an, aber es ist kein Zöllner zu sehen. Nach einer Weile kommt ein ungarischer Grenzer, schaut in die Autos, sieht (fast) nur junge Leute und sagt: „Seid ihr nicht an verkehrter Grenze?“

 

Doch der Traum von Veränderung zerplatzt schnell. Die Vorbereitungen für den 40. Jahrestag der DDR laufen auf vollen Touren und überall ist in der Propaganda von Treue zur DDR und Erfolgen des Sozialismus zu hören.

 

Inzwischen spitzt sich in Prag die Lage zu. In der bundesdeutschen Botschaft haben sich Tausende DDR-Bürger versammelt, sie wollen in die BRD und nie wieder zurück in die DDR. Nach Ungarn gibt es keine Ausreise mehr und am 3. Oktober wird die Grenze zur CSSR dicht gemacht. Jetzt wissen alle, dass die Mausefalle DDR zugeschnappt ist. Kein Entkommen mehr. Als die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen aus Prag durch Dresden fahren, sind es verzweifelte Menschen, die den Bahnhof besetzen und in einem der Züge einen Platz in die Freiheit erkämpfen wollen. Die Polizei geht mit brutaler Gewalt vor, verhaftet Hunderte und räumt den Bahnhof mit Wasserwerfern und Schlagstöcken. Chaos auf den Straßen. Die Kirchen bieten den Fliehenden Schutz. Auf der Straße zwischen Bahnhof und Innenstadt gibt es eine erste Demonstration mit Kerzen für Gewaltlosigkeit auf beiden Seiten. In Plauen kommt es am 7. Oktober zum ersten Dialog zwischen dem Sprecher der Demonstranten, Superintendent Küttler, und der Parteileitung der Stadt. Die Montagsdemonstration am 9. Oktober nach dem Friedensgebet in Leipzig mit 70.000 Menschen bringt die Wende. Das massiv aufgebotene Militär, was die gesamte Innenstadt besetzt hat, befolgt den mörderischen Einsatzbefehl aus Berlin nicht – der große Sieg der Friedensgebete ist kaum zu fassen. Vielen ist klar: Gott selbst hat eingegriffen. Nun werden auch die Menschen in der übrigen DDR mutiger. Friedensgebete und Demonstrationen entstehen in fast allen Großstädten, das „Neue Forum“ wird gegründet und die Staatsführung signalisiert schließlich Bereitschaft zum Dialog. Künstler und Pfarrer engagieren sich und sind Wegbereiter für Gesprächsforen, runde Tische und Reformen. Allen geht es um eine Erneuerung der DDR, von Wiedervereinigung ist noch keine Rede.

 

Erich Honecker wird vom Politbüro abgesetzt. Nachfolger wird Egon Krenz, von dem aber niemand eine spürbare Veränderung der Politik erwartet. Der Ruf nach Mitbestimmung und Demokratie formiert sich knapp und unmissverständlich in dem Slogan: „Wir sind das Volk.“ Weil aus Berlin nur Phrasen und Vertröstungen kommen, hält die Welle der Demonstrationen an. Täglich sind Tausende auf den Straßen und das steigert sich am 4. November in Berlin zur Demo der (knappen) Million. Weil Reisefreiheit ein zentrales Anliegen der Demonstranten ist, wird am 6. November ein Reisegesetz veröffentlicht, was aber von der Volkskammer bereits am nächsten Tag wieder verworfen wird. Darauf tritt der DDR-Ministerrat zurück und einen Tag später das gesamte Politbüro. Aber das neue Politbüro unter Egon Krenz hat keine innere Kraft, schon gar nicht zur Erneuerung eines unzufriedenen und aufgewachten Landes.

 

Am 9. November verkündet Günter Schabowski in der historischen Pressekonferenz am frühen Abend ein erneutes Reisegesetz. Ohne Visa und lange Anträge ist die Ausreise in die BRD möglich. Da der Zeitpunkt nicht eindeutig vermerkt ist, strömen noch an diesem Abend Tausende an die Grenzübergangsstellen in Berlin. Sie fordern und erzwingen den freien Übergang nach Westberlin. Die Grenzsoldaten sind orientierungslos und wie gelähmt. Noch in dieser Nacht tanzen die Menschen auf der todbringenden Mauer. Millionen verfolgten das vor den Bildschirmen und wir dachten, es ist ein Traum – doch die Realität stürzte uns in ein unbekanntes Gefühl von Freiheit, was nur mit Tränen der Freude zu ertragen war.

 

Nun kann man diese friedliche Revolution als eine Verkettung von günstigen Umständen ansehen. Für mich ist es ein Wunderwerk Gottes, dass Menschen den Mut fanden, gegen Bespitzelung, Misswirtschaft und Hoffnungslosigkeit aufzustehen, dass die Sowjetunion so am Ende war und dass in Polen und Ungarn politisches Tauwetter neues Denken möglich machte. Es bleibt ein Wunder, dass der hochgerüstete Atheismus mit Armee, Polizei, Bereitschaftspolizei, Kampftruppen, Stasi und paramilitärischen Einheiten durch Kerzen und Gebete seine Macht verloren hat. Ein Offizier in Leipzig hat es auf den Punkt gebracht: „Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ Angesichte der vielen Toten, welche die arabischen Revolutionen, die Kämpfe in Syrien und der Ukraine gefordert haben und weiter fordern, ist es eine ganz besondere Gnade unseres Gottes, dass wir eine friedliche Revolution in Deutschland erlebt haben. Darüber sollte unser Dank zu Gott nie verklingen.